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Als ich Weltmeisterin wurde...

  • julewurm9
  • 1. Nov. 2020
  • 4 Min. Lesezeit

Es gibt Erinnerungen, über die will ich nicht zu häufig nachdenken aus Angst, dass sie sich abnutzen. Gleichzeitig habe ich Angst Details zu vergessen. Lange dachte ich, es sei die süßeste Erinnerung meines Lebens. Vielleicht denke ich das immer noch.


Ich habe viel trainiert und versucht es so schlau wie möglich anzugehen. Das Rationale liegt mir häufig nicht so. Ruhetage fallen mir schwer, am liebsten würde ich immer und den ganzen Tag an meinen Schwächen trainieren. Ich habe nie das Gefühl genug trainiert zu haben. Nie. Der Wettkampf naht, es scheint als wäre alles optimiert. Ich versuche mir das einzureden und mein Umfeld davon zu überzeugen, ohne zu hohe Erwartungen aufzubauen. Ich schwanke zwischen Optimierungsdrang und bin gleichzeitig überzeugt davon, dass Lockerheit der Schlüssel zum Erfolg ist. Der Wettkampf geht los. Mein Freund und ich schlafen in getrennten Hotel-Zimmern, ich nehme Baldrian-Pastillen vorm Einschlafen, mache Yoga nach dem Aufstehen, frühstücke ein Nutella-Croissant um ein bisschen Lockerheit einzustreuen. Ein bisschen will ich das auch nach außen zeigen, dass mir das alles nicht so wichtig ist.


Die Vorrunden ziehen an mir vorrüber, ich sitze im Team-Bus zurück zum Hotel nach dem Halbfinale. Ich bin als Erste für das Finale qualifiziert. In meinem Kopf hämmert eine Statistik, dass Erstqualifizierte im Finale nie gewinnen. Zweite oder Dritte wäre ja auch gut, denke ich mir. Und überhaupt geht es ja gar nicht ums Ergebnis, es ist doch schön überhaupt hier zu sein, rede ich mir ein. Was für ein Unsinn. Ich frag mich, ob das irgendwer glaubt. Letzte Nacht habe ich 3 Stunden geschlafen. Einschlafen ging nicht, Baldrian ist Quatsch, war ja klar. Ich tue so als würde ich Mittagsschlaf machen und esse irgendwas super Gesundes zu Mittag. Das kommt mir alles sehr professionell von mir vor. Ich habe das Gefühl inzwischen ein bisschen diese Sportler-Professionalität auszustrahlen. Hab das Gefühl, die Leute nehmen mir das ab. Das fühlt sich irgendwie gut an. Wir fahren zurück zum Wettkampf. Ich fülle meine Zuckerspeicher mit einer Banane auf, führe eine heitere Unterhaltung mit meinem Trainer. Ich stehe wahnsinnig unter Druck. Alle anderen auch. Fertig warm gemacht. Ich will mich beim Warmmachen nicht vergleichen, aber irgendwie will ich es doch. Solange ich besser bin.


Wir hören vom Aufwärmbereich wie der Sprecher das Publikum in der Ferne anheizt. Mein Oma war zum Halbfinale da. Wir haben uns schon ewig nicht gesehen. Wir haben uns verabschiedet, sie war zu k.o., um zum Finale zu bleiben. Ich hoffe trotzdem, dass sie noch da ist, auch wenn ich es für unwahrscheinlich halte.

Wir bekommen mitgeteilt, dass das Finale jetzt losgeht. Laufen einen abgesperrten Gang vom Aufwärmbereich zum Wettkampf entlang. Der Sprecher wird lauter, das Publikum auch, irgendeine Verlosung. Ich fühle mich wie von Watte ummantelt. Zwischen der Absperrung sind kleine Löcher, ziemlich viel Publikum zu sehen. Ich bin unendlich aufgeregt, traue mich nicht mir vorzustellen, wie es wäre Weltmeisterin zu werden. Denke mir, ich bin ja nicht die einzige, die das hier will. Vielleicht ist meine Oma ja doch noch geblieben. Die Sonne geht unter, wir sitzen hinter der Wand, gucken auf eine Kirmes mit Riesenrad und ein menschenleeres Leichtathletikstadion. Bevor ich auf die Matte gehe, als der Sprecher meinen Namen krakeelt, fürchte ich, gleich in Ohnmacht fallen. Meine Beine fühlen sich wabbelig an. Ich weiß auf einmal nicht mehr wie man über eine Matte läuft. Wird sich hoffentlich gleich ergeben.


Ich klettere den ersten Boulder hoch, bin überrascht, dass es so schnell ging. Der zweite liegt mir nicht. Ich versuche mir das nicht einzureden. Think positive und so. Was hat die Sportpsychologin nochmal gesagt? Das hilft jetzt sowieso alles nicht. Das ist jetzt alles ganz anders. Ich klettere im ersten Versuch hoch, kann es nicht glauben. Wie ist das denn jetzt passiert? Ok, scheiße, jetzt kann ich Weltmeisterin werden. Fuck. Den nächsten Boulder schafft niemand. Ich stehe hinter der Wand. Nur noch ein Boulder. Auf einmal fällt mir auf wie platt meine Arme sind. Ich frage mich, warum mir das erst jetzt auffällt. Und warum gerade jetzt. Zu platt. Mist. Mein Freund und ich stehen hinter der Wand. Ich bin verzweifelt. Er sagt irgendwas. Wir sind die letzten Starter. Erfolgsverwöhnt durch die Saison stolziert. Können beide gewinnen. Haben beide ein paar Versuche. Ich halte es für unwahrscheinlich, dass wir beide gewinnen, sage es aber nicht. Er wird sich das wohl auch denken. Es ist inzwischen dunkel, das Riesenrad leuchtet vor uns die Menge tobt hinter uns. Der letzte Boulder liegt mir, aber ich stand noch nie in meinem Leben unter so viel Druck. Ich frage mich wieder, was passiert wenn ich in Ohnmacht falle.


Es geht los. Ich mache Versuch um Versuch, viele habe ich glaube ich nicht mehr. Die Zeit rinnt davon, ich habe das Gefühl alles zieht an mir vorbei. Ich bin zu hibbelig. Plötzlich habe ich die schwere Stelle geschafft, weiß nicht wie, eiere mich durch den Rest des Boulders, gucke den Topgriff an. In mir spielen sich 1000 Szenarien gleichzeitig ab, wie ich an dem größten Henkel der Welt daneben greife. Konzentrier‘ dich, nur nicht daneben greifen, nicht negativ denken, think positive und so, plötzlich hab ich den Griff in der Hand – Weltmeisterin. Holy shit! Alles bricht in mir zusammen und gleichzeitig ist alles krass klar. Ich sitze auf der Matte und kann es nicht glauben. Will lachen und weinen. Ich gucke in die Gesichter der Zuschauer, freue mich über jeden Einzelnen, würde gerne alle umarmen, und gleichzeitig wäre ich jetzt auch gerne allein. Mein Freund schafft es nicht. Danach passiert alles Mögliche. Meine Erinnerung ist wie ein Daumenkino, Umarmungen, Glückwünsche, Sekt, Siegerehrung, Dopingkontrolle, Tanzen, Feiern, Bier, noch mehr Sekt, Tanzen, Hotelbett. Morgen fahre ich mit meiner besten Freundin zum Surfen nach Südfrankreich. Meine sportlichen Ambitionen sind an diesem Tag in ein schwarzes Loch gefallen. Aber ich war kurz der glücklichste Mensch der Welt.

 
 
 

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