Von Staub-Botschaften und Franchise-Boulderhallen
- julewurm9
- 10. Nov. 2020
- 3 Min. Lesezeit
Vor einigen Jahren gab es einen Moment, an dem ich es wahnsinnig absurd fand, dass sich zu diesem Zeitpunkt in der Boulderhalle mehr Leute aufhielten, die ich noch nie dort gesehen hatte, als Leute, die ich vom Sehen kannte. Heute erscheint es mir absurd, dass ich mich mal darüber mal gewundert habe.
Als ich (vor 20 Jahren) mit dem Klettern begonnen habe, trafen sich in Kletterhallen ältere Leute, die sich dem Bergsport verbunden fühlten, und Aussteiger. Man kannte immer jeden. Mittendrin trainierte ich als Mitglied einer Kindergruppe und entdeckte meine Liebe zu dem Sport, der mein Leben bis heute prägt. Der Boulderbereich der Kletterhalle, in der ich aufwuchs, war so groß wie ein kleines Wohnzimmer. Er bestand aus zwei Mini-Wänden und einem Matten-Chaos auf dem Boden. Für uns Kinder war es der Rückzugsort, an dem wir Unsinn machen konnten ohne, dass die Erwachsenen ein Auge auf uns hatten. Hier konnte man nichts falsch machen, keinen Anschiss für einen nicht zugeschraubten Karabiner kassieren. Ich habe das Bouldern geliebt. Extra geschraubte Boulder gab es nicht. Es waren wahllos Griffe in die Wand geschraubt, deren Anordnung alle paar Jahre geändert wurde. Dort haben wir Judo-Kämpfe auf den Matten ausgetragen, sind auf die Wand geklettert und haben im Staub Botschaften hinterlassen. Gelegentlich haben wir uns wilde Sprünge an der Wand definiert. Wenn ich in der Schule erzählt habe, dass ich klettere, hat glaube ich niemand so richtig verstanden, was ich da mache.
Inzwischen weiß jeder, also wirklich jeder, was Bouldern ist. Zumindest jeder in meinem Alter. Das war es mit dem Exotenstatus. Von den ehemaligen Kommiliton*innen, denen ich vor einigen Jahren, zu Beginn des Studiums umständlich versucht habe zu erklären, was Bouldern ist, bekomme ich heute erklärt, was die beste Boulderhalle in welcher Stadt ist und warum. Wurde ich vor wenigen Jahren, außerhalb der Kletterwelt, noch für mein ständiges Tragen von Daunen- und Regenjacken belächelt, bekomme ich heute Komplimente für diese Klamotten, die mir gestern noch peinlich waren, an denen ich aber aus Faulheit und Desinteresse nichts ändern konnte.
Boulderhallenbesitzer*innen sind heute nicht mehr die Kletter*innen, die nicht wissen wohin mit ihrem Leben, oder es verschwitzt haben eine Ausbildung zu machen und stattdessen bis sie Mitte 30 waren unter irgendwelchen Felsen saßen, sondern sie sind erfolgreiche Geschäftsmänner- und Frauen, die im Tesla vorfahren (nicht alle – schon klar). Sie haben es auf wundersame Art und Weise geschafft, das Bouldern einer großen Allgemeinheit zugänglich zu machen. Die Franchise-Boulderhalle ist kein Novum mehr, Boulderhallen sind gleichzeitig Café, Biergarten, Dating-Arena, Acroyoga-Studio, Parkourhalle, Fitnessstudio,...
Schrauber*innen, die potheads von gestern, gelten heute als die Künstler*innen des Sports. In jeder Boulderhalle gibt es hierarchische Schrauber*innen-Strukturen bestehend aus Chefschrauber*innen, normalen Schrauber*innen, Schrauberassistent*innen, Griffe-Rausschrauber*innen und Griffeputzer*innen. Als Schrauber*in verdient man so viel wie ich an einem Tag im Krankenhaus, für viele der bestbezahlte Student*innenjob der Welt also. Sie sind die Held*innen der Kletterhalle und Freigeister der Szene.
Selbst zur Unterhaltung außerhalb der Boulderhalle gibt es unzählige Boulderbücher, Bouldervideos, Boulderpodcasts, Boulderläden für jeden und überall.
Aber warum fucking Bouldern?
Natürlich ist das Bouldern im Großen und Ganzen eine außerordentlich wohltuende und zugleich faszinierende Aktivität. Es ist nicht zu anstrengend, aber gerade so anstrengend, dass man sagen kann, man hat Sport gemacht. Es ist ein bisschen komplex, aber gerade noch so einfach, dass man nach einem langen Tag nicht in intellektuelle Überforderung gerät. Es sieht ein bisschen krass und gefährlich aus, eignet sich für tolle Instagram-Fotos, aber was wirklich Schlimmes passieren kann eigentlich nicht. Man strengt alle Muskeln ein bisschen an, Fitnessstudio kann man sich praktischerweise sparen, hat eh nie so Bock gemacht. Und, was mich persönlich seit dem Verfall meiner sportlichen Ambitionen häufig in die Boulderhalle führt, ist dass ich mich ein bisschen bewege und dabei quatschen kann. Quasi wie, sich im Café treffen und gleichzeitig Sport machen. Und das Allerbeste ist natürlich, dass man irgendwann mit dem #van nach Bleau fahren und am Fels bouldern kann.
Vielleicht ist es aber auch einfach in 10 Jahren wieder total out...
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